Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, mein trans Selbst zu lieben

„Ich nahm es auf mich, ein Jude zu sein, wiewohl es gewisse Möglichkeiten zu einem Arrangement gegeben hätte. Ich ging den Pakt ein mit einer Widerstandsbewegung, deren realpolitische Aussichten sehr gering waren. Auch habe ich am Ende wiedererlernt, worauf es mehr ankam als auf moralische Widerstandskraft: zurückzuschlagen.

Jean Améry: „Jenseits von Schuld und Sühne“. 1977.

Vor fast genau einem Jahr befand ich mich in einem unvorstellbaren Aufruhr. Ich war kurz davor, alles hinzuschmeißen und erneut zu transitionieren, also schrieb ich bedrückt einen Text über trans* Selbstliebe mit dem Titel „Sorry, I don’t love my transgender Self”. Das war mein Versuch, mit einer Situation fertig zu werden, in der ich das Gefühl hatte, mein Trans-Sein mit aller Kraft von mir fernhalten zu müssen. Was soll ich sagen – es kam wieder zurück.

Liebe trans Kinder, liebe zukünftige Detransitioner:

Bitte glaubt nicht, dass diejenigen, die gegen den „Transgender-Kult“ hetzen, nett zu euch sein werden, wenn ihr euch nicht als trans, sondern „bloß“ als maskuline Lesbe oder als femininer Schwuler outet. Selbstakzeptanz kann unterschiedliche Formen annehmen und für euch persönlich könnte sie einen geschlechtlichen Übergang bedeuten – oder auch nicht. Selbst auf der rein praktischen Ebene gibt es gar keine Möglichkeit, euch trans zu machen, wenn ihr es nicht seid. Teilweise liegt es daran, dass „Transsein“ keine objektiv messbare Eigenschaft wie eine Augenfarbe ist. Trans zu sein, diese Bezeichnung für sich zu verwenden und damit das zu meinen, was heute damit gemeint ist, ist unser Weg, zu erklären, was wir bereits sind. Nur du kannst entscheiden, ob du dich auf den Weg der Transition begeben willst und die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass in dieser Gesellschaft dadurch Hindernisse auf dich zukommen. Es gibt einen einfachen Grund dafür, warum weibliche Detransitioner von gewissen Leuten als die „Verluste“ der geschlechtlichen Transition betrauert werden. Schau dir die Person an, die sagt, dass Detransitioner – und sogar glückliche trans Männer – ihren Körper „ruiniert“ haben und du wirst die Person finden, die außerdem glaubt, dass Piercings und unnatürliche Haarfarben Frauen hässlicher machen. Ja, stellt euch vor: trans zu sein wird gesellschaftlich bestraft, genauso wie homosexuell zu sein, oder sich überhaupt frei auszuleben, sofern es bestimmten sozialen Normen widerspricht. 

Ich selbst habe erstaunliche Ähnlichkeit mit dem, was von manchen als „wirklich trans“ bezeichnet wird. Meine Geschichte ist die von früher Geschlechtsdysphorie, vom „sich schon immer so gefühlt haben“. Sogar oberflächlich betrachtet erfülle ich auf geradezu klassische Weise die Erwartungen an Geschlecht: Frau-Ich trägt roten Lippenstift im Ton der Fingernägel, Mann-Ich liebt die Anzüge und Haarschnitte der Zwischenkriegszeit. Was bin ich denn eigentlich, ein verkappter Konservativer?

Ich habe mir schon immer große Mühe gegeben, sauber, ordentlich, erfolgreich auszusehen. Ich bin nie krank oder faul, die zwei Todsünden des Berufstätigen. Ich würde niemals eine E-Mail um Mitternacht oder am Schabbat beantworten – dafür gibt es den „Senden planen“-Knopf. Da ist eine Angst in mir, die ich nicht loswerde, die erbliche Krankheit des Immigranten: die Angst, niemals aus Armut, Verzweiflung und Ungewissheit entkommen zu können. Die Angst, es einfach nicht zu schaffen. Wenn Selbsthass ein Erfolgsrezept wäre, hätte es schon längst bei mir gewirkt. Der Mythos der Meritokratie und der Glaube an Selbstoptimierung sind die Schmerzmittel des armen Mannes. Ich hatte Zeit meines Lebens so viel davon, dass mir schlecht geworden ist.

Ich bin ein ehemaliger Assimilierter. Verzeiht mir, wenn ich gelegentlich rückfällig bin. Mit 13 habe ich angefangen, nur noch schwarz zu tragen. Nein, kein Leder-und-Ketten-Emo-Outfit, dass Gen Z möglicherweise gefallen würde, sondern eher ein schwarzes Nichts: nicht einen Tupfen Farbe, keinen Aufdruck, nichts, was mich angreifbar machen würde. Erst im Erwachsenenalter erfuhr ich, dass osteuropäische Juden des 19. Jahrhunderts sich vollständig in Schwarz kleideten, um weniger auffällig zu sein – etwas, was in Chassidischer Tradition bis heute fortgeführt wird.

Meine politischen Feinde betrachten mich nicht als einen Gegner, sondern als ein Ungeziefer, nach dessen Auslöschung sie trachten. Einige von ihnen haben überhaupt keine Scham, das zuzugeben. Also warum sollte ich versuchen, überhaupt mit ihnen zu reden oder mich beim Schreiben an sie zu wenden, während ich meine Seele offenbare? Die meisten Menschen, die von der Möglichkeit eines Selbstbestimmungsgesetzes für Geschlecht zutiefst verunsichert sind, sind die gleichen, die mir lesbenfeindliche Beschimpfungen hinterherrufen. Die traurigste Fraktion derer, die sich in jüngerer Vergangenheit gegen die Rechte von trans Personen aufgestellt haben, sind die sogenannte „LGB-Alliance“: eine Minderheit von Lesben, Schwulen und Bisexuellen, die ihre gegenseitige Verachtung unterdrücken, um diejenigen zu bekämpfen, die sie für noch weniger respektabel halten. Denn darum geht es die ganze Zeit: Seriosität in den Augen der Mächtigen. Ein paar Krümel vom Esstisch.

Selbsthass ist ein innerer Parasit. Es fällt mir noch immer schwer, das queere Kind zu lieben, das ich war, und den Ausländer, der ich bin. Wenn ich von außen keine Liebe erfahren habe, wie sollte ich sie innen finden? Die größten Klassenressentiments empfinde ich gegenüber meiner eigenen Klasse. Sie loszulassen scheint nach vielen Jahren der zusammengebissenen Zähne unmöglich. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es damit nun vorbei ist, aber so ist es nicht. Für den Moment kann ich sagen: ich werde dagegen ankämpfen, egal, wie aussichtslos der Kampf auch scheinen mag.

Tage der Rache

Wenn ich mir meinen Beruf frei aussuchen könnte, wäre ich Schriftsteller. Eine Altbauwohnung in einer geschichtsträchtigen, europäischen Großstadt, fußläufig von einem Friedhof aus dem 19. Jahrhundert entfernt. Mittags einen Milchkaffee zum Frühstück und dazu Brahms von der Schallplatte. Isolation und Zigaretten, damit meine erhabenen, dunklen Gedanken wachsen können. In einem anderen Leben wäre ich vielleicht auch ein großer Entdecker gewesen, hätte von meinen Expeditionen Ableger und Tinkturen von seltenen Pflanzen mitgebracht, um sie zu studieren und ihren Duft in Parfüms einzufangen.

Das Einzige, was mir fehlt, um mich auf diese Weise auszuleben, ist meistens recht hässlich, mikrobiell stark belastet durch all die Hände, die es anfassen und eigentlich nichts, worüber ein Idealist wie ich sprechen möchte: Geld.

„Die Vorfahren haben Europa ausgeraubt“, raunte meine Mutter auf Russisch mit einer tiefen Stimme, die ich kaum von ihr kannte, wenn die Eltern der anderen Tenniskinder uns, der Ausländerfamilie, ihre Verachtung recht offen spüren ließen. Ich liebte und liebe diese Wut an ihr, es war ein erfrischender Bruch der geduckten, unglücklichen Haltung, die ich Zeit meines Lebens von ihr kannte. Überhaupt kenne ich kaum einen Menschen, der so intelligent, gebildet und fleißig ist wie meine Mutter. Als jüdische Tochter hatte sie schon früh Klavierunterricht, bei dem ein Lehrer ihr das absolute Gehör bescheinigte. Den Grund, warum sie nie das Konservatorium besuchte, kenne ich nicht. Warum sie keine Chemikerin werden konnte, weiß ich dagegen schon: es gab in der Sowjetunion eine Judenquote für manche Studiengänge. Also ging sie in den Ingenieursberuf wie ihr eigener Vater, der bekannter und angesehener Bauingenieur der estnischen Hauptstadt Tallinn war. Auf alten Bildern erinnert er mich an einen jüdischen Don Draper. Das waren natürlich andere Zeiten als die 1990er in Schleswig-Holstein, in denen ich aufgewachsen bin. Eine Migration ist in jeder Biografie ein Bruch, durch die besonderen Umstände der zerfallenden Sowjetunion und Privatisierung hatte meine Familie aber buchstäblich alles verloren. Und so lernte ich meinen Platz in dieser Gesellschaft früh.

Die kleinen Dörfchen nördlich von Hamburg hatten alle noch vor 1933 zu über 90% die NSDAP gewählt – eine kuriose Tatsache, die ich im späten Jugendalter erfuhr, die mich aber nicht im Mindesten überraschte. Die vielen Außenstellen des großen Hamburger KZs waren längst zu ein paar Steinplatten im Boden verfallen, als einer meiner Geschichtslehrer vollkommen unverhohlen Bismarck verehren konnte und über Hitler sagte, im Vergleich zu Stalin und seinen Gulags sei er ja „ein Waisenjunge“ gewesen. Bei ihrem ersten Schulpraktikum im kleinen, örtlichen Krankenhaus pflegte meine Schwester greise, aber geistig noch durchaus rege SS-Offiziere. Sie war aber doch so ein nettes Mädchen und wurde für die Tochter des Arztes gehalten, der eigentlich der Vater ihrer besten Freundin und Klassenkameradin war.

Meine Schwester ist heute Ärztin. Wie vor ihr schon meine Mutter hat sie ihr Leben lang nichts getan als zu arbeiten. Wenn ich gefragt werde, was das größte Problem dieser ganzen „woken“ Bewegung sei, sage ich: wir arbeiten zu viel, vor allem zu viel unbezahlt. Das zweite Problem ist: wir sind einfach zu nett. Wir sind nicht die mit den „autoritären Sehnsüchten“, sondern die mit der Angst, vielleicht etwas Falsches gesagt und jemanden verletzt zu haben. Ich liebe es, wenn Menschen wie ich – Frauen, Queers, trans* Personen, Migrant*innen, Ausgestoßene, Be*hinderte, Verrückte, Arme – egoistisch, faul, genusssüchtig und maßlos sind. Noch besser ist es, wenn sie dazu noch dreist, laut und wütend sind. Wenn ich meiner Frau einige dieser Dinge als vermeintlichen Charakterfehler vorwerfe, dann eigentlich nur aus Neid: ich habe einfach schon zu lange selber Hunger.

Aber was will ich eigentlich? Geld essen? Die Revolution des Proletariats? Dass es keine Reichen mehr gibt und den blonden Tennistöchtern ihr Erbe wegsteuern?

Erstens: nein, siehe mikrobielle Belastung. Zweitens: ja, natürlich! Und drittens: um G*ttes Willen, die armen Tennistöchter sind mit ihren eigenen Eltern schon gestraft genug. (Liebe J., wo auch immer du bist: ich hoffe, du hast dich inzwischen als lesbisch geoutet, bist Kunst studieren gegangen und hast den Kontakt zu deinem Vater, der dich nach jedem verlorenen Punktspiel komplett zusammengefaltet hat, für immer abgebrochen.)

Als sowjetisch-deutscher Jude und als trans* Person in einer Gesellschaft, die unsere Existenzberechtigung noch immer in Frage stellt, habe ich gute Gründe, auf Rache und Bestrafung zu pochen, manchmal tröste ich mich sogar mit solchen Fantasien. Ja, wirklich: wenn ich besonders wütend bin, stelle ich mir vor, was ich mit denen, die mich auf dem Dorfgymnasium viele Jahre lang gemobbt haben, tun würde. Es geht mir damit hervorragend, von einem christlichen Versöhnungs- und Vergebungsdrang habe ich keine Spur. Aber sowas ist lediglich ein Tagtraum, der schnell wieder verfliegt. Aktivismus ist zähe und mühsame Arbeit, am liebsten wäre ich etwas ganz anderes als von Beruf aus wütend. Ich scherze gerne, dass ich als Aktivist dafür arbeite, dass meine Arbeit nicht länger gebraucht wird.  

Das, wofür ich kämpfe, ist eigentlich überhaupt keine Rache, sondern: Gerechtigkeit. Für meine Leute hat es sie noch immer nicht gegeben.  

The Jewish Girl

https://www.lesbengeschichte.org/bio_charlaque_d.html

Charlotte Charlaque, 1892 in Berlin-Schöneberg mit dem Namen Scharlach geboren, hatte eine bewegte Lebensgeschichte. Migration, Mehrsprachigkeit, das Überleben als Jüdin in einer feindlichen Umgebung und die Suche nach Liebe und Glück entgegen aller Widerstände – all diese Dinge sind meiner eigenen Biografie so sehr eingeschrieben, dass mir eine E-Mail, die ich vor fast genau einem Jahr erhielt, wie das Klopfen des Schicksals erschien. Mir wurde angeboten, Charlotte Charlaque in einem Film über das queere Berlin des frühen 20. Jahrhunderts zu spielen. Charlotte war eine der trans Patientinnen von Magnus Hirschfeld, des Sexualwissenschaftlers, dem wir die erste „Queer Theory“ zu verdanken haben. Mit der Künstlerin Toni Ebel, die 1933 zum Judentum konvertierte, verband sie mehr als nur eine jahrzehntelange Freundschaft und das gemeinsame Überleben trotz Verfolgung und bitterster Armut. Toni und Charlotte sind für mich die tragischste lesbische Liebesgeschichte des vergangenen Jahrhunderts – eine von sicherlich vielen, die durch den Nationalsozialismus auseinandergerissen wurden und von denen wir nie etwas erfahren werden. Außergewöhnlich ist an dieser, dass beide Frauen nicht nur Lesben und Jüdinnen waren, sondern auch transgeschlechtlich in einer Zeit, in der das eigentlich fast unmöglich schien.

Ob ich das Recht habe, eine transgeschlechtliche Frau zu spielen, habe ich mich lange gefragt. Manche werden diese Frage anders beantworten als ich, und natürlich erkenne ich diese Meinungen an. Nur ist es so: ich konnte nicht anders, als es zu tun. Wäre ich an diesem sonnigen Herbsttag nicht in den ICE gestiegen, hätte ich nicht für die Rolle vorgesprochen, hätte ich es für immer bereut. Wenige Monate später verbrachte ich dann eine bewegende Woche im verschneiten Berlin. In einer Drehpause besuchte ich das Jüdische Museum noch mit vollkommen aus der Zeit gefallenen, ausrasierten Augenbrauen. Das Bild von mir, auf dem ich als jüdisches Schneewittchen zwischen hohen Steinsäulen umhergehe, wirkt ein bisschen wie ein Selfie beim Denkmal für die ermordeten Juden am Brandenburger Tor. Ähnlich uneben ist der Boden in diesem Außenbereich des Museums, der sich „Garten des Exils“ nennt. Nur einen wichtigen Unterschied haben die beiden Bauwerke: auf den Stelen des „Gartens“ wachsen lebende Pflanzen, Ölweiden. Eine schöne Metapher für den Lebenshunger derer, die durch die Emigration alles verloren haben. Auch auf mir wächst und blüht es, entgegen allem, was die Frau, die ich bin, verhindern wollte. Die Rosen, die meine Brust überwuchern, schmücken auch das Abendkleid, das ich in einer Szene des Films trage.

Ich sage manchmal, dass ich trans und eine Frau bin, aber keine trans Frau. Wie es sich anfühlt, für die eigene Weiblichkeit erbittert gekämpft zu haben, weiß ich aber durchaus. Das ist es, was mich mit Charlotte und vielleicht mit allen trans*weiblichen Personen verbindet: „Sie haben versucht, uns umzubringen, wir haben überlebt“, um den alten Spruch über den Ursprung der meisten jüdischen Feiertage zu zitieren. Der Zynismus einer Person, die vor kurzer Zeit recht öffentlich kommentierte, transgeschlechtliche Personen hätten sich im Gegensatz zu Juden*Jüdinnen während des Nationalsozialismus ja bestens verstecken können, erscheint geradezu grotesk. Ich könnte an dieser Stelle nachhaken, warum eine deutsche Goja meint, dass das Jüdischsein unübersehbar in einen Menschen eingeschrieben sei, aber natürlich geht es dieser Person niemals auch nur um eine interne Logik. So wie der (erdachte) Jude immer sofort zu erkennen und gleichzeitig immer trügerisch-unsichtbar ist, ist es auch diese Fiktion von „der trans Person“. Dass die deutschen Gesetze der Namensänderung viel strenger sind als die der meisten Länder, ist kein Zufall. Nicht, dass jemand wie ich noch versucht, deutsch und unsichtbar zu werden. Das Gesetz als eine von diesen kleinen Spuren der Geschichte, die von niemandem beseitigt worden sind.

1933 lebten Charlotte und Toni zunächst in Berlin, bevor sie zusammen in die ehemalige Tschechoslowakei flohen. 1942 wurde Charlotte schließlich von der tschechischen Fremdenpolizei verhaftet – als Jüdin. Mit großem Glück gelang ihr die Flucht in die USA, wo sie aufgewachsen war und lange gelebt hatte. Als einer „Reichsdeutschen“ wurde Toni die Emigration verweigert. Für die Geschichte der beiden war es das Ende. Getrennt starben sie früh und in Armut.

Als ich mich im braunen Pelzmantel von Toni verabschiede und unser gemeinsamer Atem im eisigen Wohnzimmer als Dampf in der Luft steht, muss ich den Schmerz des Verlusts nicht spielen. Meine Spielpartnerin auch nicht. Wir sind beide osteuropäische Migrantinnen mit einem Leben, in dem die Trennung von dem Bekannten und Geliebten unvermeidlich war. Aber noch ist es Dezember 2021 und noch weiß ich nicht, dass der Krieg kommen und sich sehr bald alles ändern wird. Noch feiere ich mit Toni den Schabbat und bringe ihr, der Konvertitin, den Segensspruch bei. Im echten Leben spricht den Segen über die Kerzen meine Frau, die noch nicht meine Frau, nicht einmal meine Verlobte ist. Am Filmset kennen nicht alle die Geschichte, die wir spielen, im Detail. Kurz gibt es Verwirrung, als ich darauf bestehe, dass Charlotte und Toni immer im Verborgenen leben konnten und niemals in ein Ghetto kamen, Baruch Hashem. Das sind die Bilder, die nicht-jüdische Deutsche nun mal gewohnt sind: „Der Pianist“ und „Schindlers Liste“.

Was es bedeutet, wenn zwei Frauen zusammen auf der Flucht sind und als Künstlerin und Übersetzerin ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen, wissend, dass es jeden Tag an der Tür klopfen könnte, ist eine andere jüdische Geschichte. Dafür, dass ich sie miterzählen durfte, bin ich für immer dankbar.

Selbsthassende Lesben

Photo Credit: I AM MIA (2022)

Das Einzige, worauf wir uns verlassen können, sind die Allianzen, die wir mit anderen Menschen eingehen. Wie brüchig diese sein können, weiß wohl niemand so gut wie ein Mensch, der selbst zeitlebens darauf angewiesen war. Was ich nicht meine, wenn ich das sage, ist, dass wir uns immer auf jeden anderen Menschen verlassen können oder dass im Ernstfall unsere gegenseitige Hilfsbereitschaft und Solidarität ausreichen wird, um das, was uns bedroht, abzuwenden. Was ich meine, ist: Allianzen sind unser höchstes Gut. Mit wem wir sie eingehen, bestimmt mehr als alles andere, wer wir am Ende sind.

2015 reiste ich mit der Frau, die ich in ein paar Tagen heiraten werde, nach Warschau. Der Besuch des jüdischen Museums ist mir sehr schön in Erinnerung geblieben. An diesem Wochentag waren wir fast alleine dort. Es fühlte sich sicherer an als in der Straßenbahn, in der die unzufriedenen Blicke mancher Menschen vor allem mir galten, nicht ihr. Einmal bekam ich diesen Blick nur, weil ich im kleinen Restaurant die „guten, hausgemachten“ Pierogi mit Fleisch nicht essen wollte – meine Frau erklärte dann schnell auf Polnisch, dass ich Vegetarier war. Vielleicht hatte ich mir die Feindseligkeit auch nur eingebildet.

Vielleicht, vielleicht, vielleicht. 

Auch Deutschland hat schöne Museen. Als Museumsmitarbeiter ist es mir ein Anliegen, sie zu besuchen: selbst wenn es bis zum ICE nur noch anderthalb Stunden sind und das Naturkundemuseum einer mittelgroßen ostdeutschen Landeshauptstadt winzig ist, wird es mich dennoch dorthin verschlagen. Ein Naturkundemuseum ist keineswegs unpolitisch, wenn das Herzstück der Ausstellung eine vollständige, konservierte Eiche ist, entlang deren Stamm ich eine Wendeltreppe hinaufsteige. Auf jedem Treppenabsatz ein-zwei Eichenzitate von irgendwelchen Dichtern und Denkern. Zum Glück ohne das Zitat mit der deutschen Eiche und dem Wildschwein, das sich daran kratzt, stelle ich fest. Hatte ich es hier, wo die Leute vollkommen ohne Ironie sächseln, etwa erwartet? Ich weiß es nicht.

Was mich dagegen ziemlich unvorbereitet traf, waren die Fragen des Publikums nach einer Stadtführung zum Thema „Geschichte des jüdischen Lebens in Hamburg“. Es ist eigentlich absurd, dass das jüdische Viertel Hamburgs für mich jahrelang ein Ort gewesen ist, an dem ich studieren, arbeiten und feiern gegangen bin, ohne aber mein Jüdischsein jemals auch nur in Worte fassen zu dürfen. Das Jüdischsein ist für deutsche Gojim nun mal ein ganz, ganz sensibles Thema und im Zweifelsfall hätte ich schlichtweg nicht die Autorität gehabt, darüber zu sprechen, denn ich war einer von diesen säkularen, sowjetischen Juden. Jetzt, als Alumnus der Universität, stand ich nach der Führung mit der Gruppe auf dem Platz der von Nazis zerstörten Synagoge und erlebte das Unvermeidliche. Warum denn das jüdische Leben heute so unsichtbar sei, wurde zunächst arglos gefragt. Die Führerin (Entschuldigung) antwortete sehr höflich ausweichend, wurde aber von einer Frau aus der Gruppe unterbrochen, die recht energisch einen Kurzvortrag darüber hielt, dass 60% aller antisemitischen Übergriffe von Menschen mit Migrationshintergrund ausgehen, deren steigende Zahl in den vergangenen Jahren eben auch zu einem Anstieg des Antisemitismus geführt habe.

Mein inzwischen verstorbener Opa sprach in seiner Kindheit sieben Sprachen, darunter auch Türkisch und Farsi. Wenn ich mit Granatapfel, Tahina und Koriandersträußchen an der Kasse stehe, werde auch ich gelegentlich auf Türkisch angesprochen, kann aber leider nur auf Deutsch antworten. Nicht alle von diesen Menschen sind mir gegenüber freundlich – meistens kann ich auch nicht sagen, warum. Eines kann ich aber mit Sicherheit sagen:

Die Entscheidung des Einzelnen, mir die Solidarität zu entziehen oder mich sogar anzugreifen, wird nichts daran ändern, dass ich einer Gruppe, die wie ich marginalisiert wird, weiterhin meine Solidarität anbieten werde.  

Die Behauptung, dass wir armen Detransitioner von denen, die transfeindliche Propaganda produzieren, mit offenen Armen empfangen werden, sobald wir dem Transsein abschwören, ist nichts weiter als eine Lüge. Wäre ich eine „selbsthassende Lesbe“, die nur aus verinnerlichter Frauenfeindlichkeit die Transition angetreten ist, wie sie es behaupten, dann wäre ich noch immer nicht eine von ihnen, selbst wenn ich es unbedingt wollte.

Die AfD wird die Russlanddeutschen und sogar manche sowjetischen Juden, die sich selbst für „die guten Ausländer“ halten und gegen „die schlechten Ausländer“ hetzen, niemals wirklich akzeptieren. Die AfD sind letzten Endes auch nicht die sächselnden Handwerker, die zufällig sahen, wie ich bei meiner Ankunft nachts in Erfurt nicht in das Hotel komme und mir halfen, indem sie das Schließfach zu den Schlüsseln öffneten. Die Menschen, von denen ich rede, sind Menschen mit Macht und Geld, die trotz allem, was ihre Vorfahren sich unter den Nagel gerissen haben, der festen Überzeugung sind, zeitlebens für ihren Erfolg gearbeitet zu haben und überhaupt ihres eigenen Glückes Schmied gewesen zu sein. Der unerschütterliche Glaube an das eigene Gute ist der beste kleinste gemeinsame Nenner. Wie schön wäre es, wenn ich auch nur einmal im Leben mit der Selbstverständlichkeit dieser Menschen einkaufen, Bahn fahren, aufs Klo gehen könnte. Dass ich es nicht kann, wird mir oft genug signalisiert, wenn ich es dennoch versuche.

Ich habe in meinem Leben bereits versucht, Allianzen mit denen einzugehen, die in dieser Gesellschaft die meiste Macht haben. Diese Allianzen sind nicht weniger brüchig als alle anderen, nur haben sie einen entscheidenden Nachteil: solange sie bestehen, sitze ich am kürzeren Hebel und wenn sie zerbrechen, dann immer an meinem Ende. Das bedeutet: mir werden die Vorteile meiner Integrationswilligkeit wieder entzogen und ich darf sehen, wo ich bleibe. Manchmal erzähle ich davon, dass mein estnischer Nachname von Deutschen, die mich noch nicht kennen, erstaunlich oft mit langem A ausgesprochen wird. So werde ich, ein Kappo, gegen meinen Willen zum Kapo gemacht. Eigentlich kein lustiger Scherz.

In der herbstlichen Abenddämmerung auf der Stelle der ehemaligen Bornplatzsynagoge stehend beschloss ich, erstmal nichts zu sagen. Es war kalt, ich war müde, die Frau mit den 60% würde wegen mir ihre Haltung wohl kaum ändern. Als wir hinterher alleine waren, tauschte ich mich mit der Historikerin, die die Führung geleitet hatte, aus und outete mich als Jude. Ich sagte ihr auch, dass das Erstarken der AfD in den letzten Jahren ganz sicher nicht zu einer deutsch-jüdischen Sichtbarkeit und Selbstverständlichkeit beigetragen hat. Sie gab mir Recht. Es war ein kurzes, merkwürdiges Gespräch.

„Ein Jude ohne eine Gemeinde ist nichts!“, warf ich meiner Frau entgegen, als wir uns einmal stritten. Mein vorbildlich-deutsches Anpassungsbestreben traf ein weiteres Mal auf den Ungehorsam, der – so kommt es mir vor – wie eine Naturgewalt bei jeder Gelegenheit aus ihr sprudelt. Zeit meines Studiums sah ich die hohen Zäune der Joseph-Carlebach-Schule nur von außen. Drinnen wurde ein Jude wie ich schlichtweg nicht erwartet. Regelrecht dankbar bin ich heute für die ersten, zarten Verbindungen, die seit Kurzem zwischen mir und der Liberalen Gemeinde entstanden sind. Die perfekte jüdische Gemeinde, die Menschen wie meine Frau und mich mit all unseren Farben aufnimmt, gibt es in Deutschland noch nicht – wir können aber zusammen mit denen, die es bereits gibt, daran arbeiten. Das gilt eigentlich für alle Communities, die es (noch) nicht gibt, obwohl Menschen wie ich existieren, existiert haben und existieren werden.

Ich existiere nicht im Vakuum. Ich existiere durch meine Entscheidungen, durch die Reibung an und mit anderen Menschen, durch meine Freundschaften, durch meine Solidarität mit anderen. Der, der ich bin, bin ich auch und vor allem durch meine Gemeinde und meine Gemeinden.

Oder, wie ich im Familienchat schreibe:

Гемайнда (Gemeindah)    

Eli beobachtet die Rotwildbrunft mit einem Fernglas. Eli trägt einen schwarzen Trenchcoat und eine Schiffermütze.

Die beste Entscheidung, die ich nie getroffen habe (Ein bisexueller Ehemann)

Es ist ein weiteres Mal dieser merkwürdige Tag für die vielleicht offensichtlichste aller sexuellen Orientierungen, und als bisexueller (Fast-)Ehemann habe ich dieses Jahr so viel zu sagen.

Der bisexuelle Ehemann spielt in der gesellschaftlichen Ordnung der Sexualität eine festgeschriebene Rolle: manchmal ist er eine begehrenswerte homosexuelle Trophäe, oft wird ihm aber auch das Gefühl gegeben, er müsse sich für seine Sexualität schämen. Wie bei allen Bisexuellen haftet seiner Sexualität etwas besonders Verruchtes an. Seine Welt waren mal Pornokinos und öffentliche Toiletten. Heute sind es die Apps, in denen er sein Gesicht nicht zeigen kann. Damals wie heute sind seine wahren Markenzeichen die Heimlichkeit, die Unehrlichkeit – die Scham, die meine Generation längst verloren hat, wenn wir unserer_m Partner_In von unseren polyamoren Abenteuern erzählen wie von Freundschaften. Überhaupt hat die Häufigkeit der gegenseitig hasserfüllten Ehe stark nachgelassen, seit Menschen festgestellt haben, dass man nicht verheiratet sein muss, um unglücklich zu sein. Wir Millennials haben also ganz andere Gründe und Vorzeichen, unter denen wir in die Eheschließung gehen.

Wenn ich mich selbst als bisexuellen Ehemann bezeichne, komme ich nicht umhin, dem Satz eine verspielte Ironie zu geben. Warum eigentlich? Bin ich nicht bisexuell oder nicht Ehemann genug, um das in vollem Ernst zu sagen? Oder habe ich einfach zu viele schlechte Erfahrungen mit den Gesichtslosen in der App gemacht, um mich selbst ohne Peinlichkeit als einen von ihnen bezeichnen zu können?

Überhaupt hatte ich nicht erwartet, wie sehr mich dieses Ehemann-Ding mitreißen würde. Das Heiraten fand ich als Frau schlichtweg blöd, genauso wie ich mit romantischen Komödien nichts anfangen kann und buchstäblich niemals Krimis lese. Alles davon schreit für mich nach einer bürgerlichen Marotte, nach einer Welt, in die ich nie gepasst hätte, selbst wenn ich es jemals versucht hätte. Als Mann kann ich tatsächlich sagen, dass ich stolz darauf bin, dass meine (Fast-)Ehefrau Ja gesagt hat. Es liegt ein zerbrechliches Glück darin, wenn man in einer Gesellschaft lebt, die noch immer sehr energisch vorschreiben möchte, wer wen heiraten darf und nach welchen Regeln. Zu denen, die laut Gesetz bis vor Kurzem weder zum Heiraten noch zur Fortpflanzung zugelassen waren, gehöre auch ich. Noch größere Angst liegt darin, wenn es eine Frage der staatsübergreifenden Politik ist: eine Ehe als Rettung vor den scharfen Fängen eines Unrechtsstaats ist es zwar eigentlich nicht, aber irgendwie auch doch. Seit dem 24. Februar 2022 gibt es für manche von uns nichts Unpolitisches.

Nun bin ich also fast ein Ehemann, und diese gefühlte oder tatsächliche Heterosexualität sagt mir mehr zu, als ich gedacht hätte. Dass ich nicht auf Frauen stehen würde, war ohnehin nie der Fall gewesen. Das Problem war für mich immer, dass Frauen nicht auf mich stehen. Manch ein Gegenüber schüttelte den Kopf, als ich von diesem Leid klagte, und fragte, warum ich mich nicht schon viel früher „in lesbischen Zusammenhängen ausprobiert“ hätte. Der einfachere Grund ist der, dass ich nicht weiß, wo ich unkomplizierte Sexdates mit Frauen finden könnte. Ehrlich. Die schwule Dating-Welt ist mir genau deshalb so nah, weil Viele darin einfach so wenig ihrer Menschlichkeit preisgeben. Ich kenne sie alle nicht und das ist gut so. Mein Gesicht zeige ich zwar genauso unverblümt wie meinen nackten Körper, aber was meine empfindliche, weiche Menschenseele angeht, bin ich einfach nicht bereit, etwas zu riskieren. Der zweite Grund, warum ich lesbisches Interesse an meiner Person meist nur als schönes Kompliment annehmen kann, ist der, dass ich sexuell grundsätzlich nur als Mann gesehen und begehrt werden möchte. Das war schon immer so und es ist unabhängig von der Person, die mich begehrt. „Wie? Du bist beim Sex doch einfach nur der Mensch, der du bist“, sagte mir mal jemand, als ich versuchte, das alles zu erklären.

Leider ist es für mich nicht so. Wenn das nüchterne Gespräch der sinnlichen Empfindung weicht, verändere ich meinen Zustand, wie wir alle. Wer ich dann werde, spielt für mich eine große Rolle. Das – und nichts anderes – ist der wahre Kern meiner eigenen Bi-Sexualität, die eigentlich (frei nach Freud) eher eine Zweigeschlechtlichkeit ist. Dieses Problem, das ich habe, habe ich auf unterschiedliche Weise gelöst. Ich habe natürlich keinen Einfluss darüber, wie mein Gegenüber mich sieht. Aber wenn ich davon erfahre, dass ich für das andere Augenpaar eine Frau bin, ist es das Ende unserer Interaktion oder zumindest das Ende von meinem sexuellen Interesse. Ich bin dieses Jahr 30 geworden und werde noch älter, irgendwann kann man sich nicht mehr leisten, NICHT wählerisch zu sein.

Eigentlich wollte ich nicht über mein Sexleben, sondern über die beste Entscheidung sprechen, die ich nicht getroffen habe. Ich meine dabei nicht die Unfreiheit, die unser eigenes sexuelles Begehren für uns alle darstellt. Ein Gefängnis aus Wänden, die elastisch und zäh wie die Häute unserer Körperöffnungen sind: wir können etwas Neues ausprobieren, aber unsere Lust kann nur eingeladen, nicht erzwungen werden. Ich spreche auch nicht davon, dass ich nach der Detransition vor etlichen Jahren mal als Frau verlobt war, nur um festzustellen, dass ich bei bestem Willem weder Ehefrau noch Mutter sein könnte. Ehemann und Vater steht mir noch bevor, und wenn ich ehrlich bin, hoffe ich verstohlen darauf. Nein, ich spreche von der Entscheidung eines anderen Menschen, die er für mich getroffen hat. Als er beschlossen hat, mich zu verlassen, gab er mir etwas zurück: ein Fernglas. Ich hatte viel Mühe und Geld in dieses Geschenk investiert, denn es war sein runder Geburtstag. Den Vollmond wollte ich mit ihm beobachten, die ISS oder so manchen hellen Planeten am Nachthimmel. Mehr für mich selbst dachte ich auch an Beobachtungen im Wald.

Dazu kam ich nun endlich, allein. Trügerisch ist das Herz, denn dieser jemand, den ich so sehr geliebt habe, war mein Unglück. Ich bin seit der Trennung ein veränderter Mensch, schreibe ich meiner Frau noch in der Bahn auf dem Weg zur Rotwildbrunft. Die Welt ist eine Bessere, wenn man nicht mit einem Menschen zusammenlebt, der alles daransetzt, dich zu verändern. Die gegenseitige Zerfleischung in einer Beziehung, die einen schönen Schein aufrechterhalten soll, ist das selbstgewählte Unglück der bisexuellen Ehemänner seiner Generation.

Für meine Altersgenossen und die Männer der Jahrgänge, die nach mir kommen, habe ich die Hoffnung, dass wir es besser machen.