„Ich nahm es auf mich, ein Jude zu sein, wiewohl es gewisse Möglichkeiten zu einem Arrangement gegeben hätte. Ich ging den Pakt ein mit einer Widerstandsbewegung, deren realpolitische Aussichten sehr gering waren. Auch habe ich am Ende wiedererlernt, worauf es mehr ankam als auf moralische Widerstandskraft: zurückzuschlagen.
Jean Améry: „Jenseits von Schuld und Sühne“. 1977.
Vor fast genau einem Jahr befand ich mich in einem unvorstellbaren Aufruhr. Ich war kurz davor, alles hinzuschmeißen und erneut zu transitionieren, also schrieb ich bedrückt einen Text über trans* Selbstliebe mit dem Titel „Sorry, I don’t love my transgender Self”. Das war mein Versuch, mit einer Situation fertig zu werden, in der ich das Gefühl hatte, mein Trans-Sein mit aller Kraft von mir fernhalten zu müssen. Was soll ich sagen – es kam wieder zurück.
Liebe trans Kinder, liebe zukünftige Detransitioner:
Bitte glaubt nicht, dass diejenigen, die gegen den „Transgender-Kult“ hetzen, nett zu euch sein werden, wenn ihr euch nicht als trans, sondern „bloß“ als maskuline Lesbe oder als femininer Schwuler outet. Selbstakzeptanz kann unterschiedliche Formen annehmen und für euch persönlich könnte sie einen geschlechtlichen Übergang bedeuten – oder auch nicht. Selbst auf der rein praktischen Ebene gibt es gar keine Möglichkeit, euch trans zu machen, wenn ihr es nicht seid. Teilweise liegt es daran, dass „Transsein“ keine objektiv messbare Eigenschaft wie eine Augenfarbe ist. Trans zu sein, diese Bezeichnung für sich zu verwenden und damit das zu meinen, was heute damit gemeint ist, ist unser Weg, zu erklären, was wir bereits sind. Nur du kannst entscheiden, ob du dich auf den Weg der Transition begeben willst und die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass in dieser Gesellschaft dadurch Hindernisse auf dich zukommen. Es gibt einen einfachen Grund dafür, warum weibliche Detransitioner von gewissen Leuten als die „Verluste“ der geschlechtlichen Transition betrauert werden. Schau dir die Person an, die sagt, dass Detransitioner – und sogar glückliche trans Männer – ihren Körper „ruiniert“ haben und du wirst die Person finden, die außerdem glaubt, dass Piercings und unnatürliche Haarfarben Frauen hässlicher machen. Ja, stellt euch vor: trans zu sein wird gesellschaftlich bestraft, genauso wie homosexuell zu sein, oder sich überhaupt frei auszuleben, sofern es bestimmten sozialen Normen widerspricht.
Ich selbst habe erstaunliche Ähnlichkeit mit dem, was von manchen als „wirklich trans“ bezeichnet wird. Meine Geschichte ist die von früher Geschlechtsdysphorie, vom „sich schon immer so gefühlt haben“. Sogar oberflächlich betrachtet erfülle ich auf geradezu klassische Weise die Erwartungen an Geschlecht: Frau-Ich trägt roten Lippenstift im Ton der Fingernägel, Mann-Ich liebt die Anzüge und Haarschnitte der Zwischenkriegszeit. Was bin ich denn eigentlich, ein verkappter Konservativer?
Ich habe mir schon immer große Mühe gegeben, sauber, ordentlich, erfolgreich auszusehen. Ich bin nie krank oder faul, die zwei Todsünden des Berufstätigen. Ich würde niemals eine E-Mail um Mitternacht oder am Schabbat beantworten – dafür gibt es den „Senden planen“-Knopf. Da ist eine Angst in mir, die ich nicht loswerde, die erbliche Krankheit des Immigranten: die Angst, niemals aus Armut, Verzweiflung und Ungewissheit entkommen zu können. Die Angst, es einfach nicht zu schaffen. Wenn Selbsthass ein Erfolgsrezept wäre, hätte es schon längst bei mir gewirkt. Der Mythos der Meritokratie und der Glaube an Selbstoptimierung sind die Schmerzmittel des armen Mannes. Ich hatte Zeit meines Lebens so viel davon, dass mir schlecht geworden ist.
Ich bin ein ehemaliger Assimilierter. Verzeiht mir, wenn ich gelegentlich rückfällig bin. Mit 13 habe ich angefangen, nur noch schwarz zu tragen. Nein, kein Leder-und-Ketten-Emo-Outfit, dass Gen Z möglicherweise gefallen würde, sondern eher ein schwarzes Nichts: nicht einen Tupfen Farbe, keinen Aufdruck, nichts, was mich angreifbar machen würde. Erst im Erwachsenenalter erfuhr ich, dass osteuropäische Juden des 19. Jahrhunderts sich vollständig in Schwarz kleideten, um weniger auffällig zu sein – etwas, was in Chassidischer Tradition bis heute fortgeführt wird.
Meine politischen Feinde betrachten mich nicht als einen Gegner, sondern als ein Ungeziefer, nach dessen Auslöschung sie trachten. Einige von ihnen haben überhaupt keine Scham, das zuzugeben. Also warum sollte ich versuchen, überhaupt mit ihnen zu reden oder mich beim Schreiben an sie zu wenden, während ich meine Seele offenbare? Die meisten Menschen, die von der Möglichkeit eines Selbstbestimmungsgesetzes für Geschlecht zutiefst verunsichert sind, sind die gleichen, die mir lesbenfeindliche Beschimpfungen hinterherrufen. Die traurigste Fraktion derer, die sich in jüngerer Vergangenheit gegen die Rechte von trans Personen aufgestellt haben, sind die sogenannte „LGB-Alliance“: eine Minderheit von Lesben, Schwulen und Bisexuellen, die ihre gegenseitige Verachtung unterdrücken, um diejenigen zu bekämpfen, die sie für noch weniger respektabel halten. Denn darum geht es die ganze Zeit: Seriosität in den Augen der Mächtigen. Ein paar Krümel vom Esstisch.
Selbsthass ist ein innerer Parasit. Es fällt mir noch immer schwer, das queere Kind zu lieben, das ich war, und den Ausländer, der ich bin. Wenn ich von außen keine Liebe erfahren habe, wie sollte ich sie innen finden? Die größten Klassenressentiments empfinde ich gegenüber meiner eigenen Klasse. Sie loszulassen scheint nach vielen Jahren der zusammengebissenen Zähne unmöglich. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es damit nun vorbei ist, aber so ist es nicht. Für den Moment kann ich sagen: ich werde dagegen ankämpfen, egal, wie aussichtslos der Kampf auch scheinen mag.